Donnerstag, 21. November

Neurologie

MS: Angriff auf Schalt- und Speicherzentrale des Gehirns

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Immunzellen scheinen die graue Hirnsubstanz, die als Schalt- und Speicherzentrale des Gehirns, anzugreifen und zu zerstören. Zu dem Ergebnis kommen Wissenschaftler der Universitätsmedizin Göttingen. Für sie ist diese Entdeckung für das Verständnis vor allem der Multiplen Sklerose und auch anderer neurologischer Erkrankungen von Bedeutung.

Neues Forschungsmodell entwickelt

Multiple Sklerose (MS) wurde lange Zeit als Erkrankung der weißen Hirnsubstanz angesehen. Doch viele MS-Symptome lassen sich nicht durch eine alleinige Schädigung der weißen Hirnsubstanz erklären: Chronische Fatigue, Gedächtnisstörungen und manchmal sogar epileptische Anfälle müssen eine andere Ursache haben. Sie weisen auf eine Schädigung der grauen Hirnsubstanz hin.

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Deshalb haben Wissenschaftler des Instituts für Neuroimmunologie und Multiple-Sklerose-Forschung der Universitätsmedizin Göttingen (UMG) ein neues Modell entwickelt. Damit lassen sich erstmals gezielt Schädigungen in der grauen Hirnsubstanz erforschen. Über diesen Weg haben sie einen neuen Krankheitsmechanismus bei Multipler Sklerose entdeckt. Die Forscher fanden heraus, durch welche Immunzellen bei dieser autoimmunologischen Erkrankung des Zentralnervensystems die „graue Hirnsubstanz“ angegriffen werden könnte. Die Schalt- und Speicherzentrale des Gehirns verschaltet, verrechnet und speichert nahezu sämtliche Signale.

Immunzellen lösen Entzündung aus

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Immunzellen, die gegen das in Nervenzellen vorkommende Eiweiß beta-Synuklein gerichtet sind, dringen gezielt in das Steuerzentrum des Gehirns ein und lösen vor Ort eine Entzündungsreaktion aus. Dadurch werden die hochspezialisierten und zarten Nervengeflechte geschädigt. Die fatale Folge: Das Gehirn schrumpft, und es kommt zu nicht reparierbaren neurologischen Ausfällen. Die Göttinger Wissenschaftler entdeckten zudem, dass solche zerstörerischen Immunzellen vor allem im Blut von Multiple Sklerose-Erkrankten mit einem fortschreitend-chronischen Verlauf vermehrt sind. Diese Erkenntnisse könnten für diagnostische oder therapeutische Aspekte bei der Multiplen Sklerose von Bedeutung sein.

Der neurologische Super-GAU: Angriff auf die Zentrale des Gehirns

Unser Immunsystem schützt uns gegen schädliche Eindringlinge, zum Beispiel vor pathogenen Bakterien oder Viren. Manchmal aber greifen Immunzellen fälschlicherweise das eigene Gewebe an. Ein solches „Missverständnis“ scheint auch bei Multipler Sklerose vorzuliegen. Diese Erkenntnis hat die Forschung aus Studien an Tiermodellen gewonnen: Hier sehen bestimmte Immunzellen, sogenannte T-Zellen, das Hirngewebe als Feind an und bekämpfen es mit den bekannten fatalen Folgen.

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„Eigenartigerweise konnte aber in solchen Studien nie ein gezielter Immunangriff auf die graue Hirnsubstanz gefunden werden, sondern es ist stets die weiße Substanz entzündet“, sagt Prof. Dr. Alexander Flügel, Direktor des Instituts für Neuroimmunologie der UMG und Senior-Autor der Publikation. „Ein zentrales Merkmal der Multiplen Sklerose blieb daher rätselhaft. Schädigungsmechanismen in der grauen Hirnsubstanz konnten nicht systematisch erforscht werden und somit sind auch die Ursachen der Schädigungen im menschlichen Gehirn bislang weitgehend unbekannt“, so Prof. Flügel.

Tatsächlich ist es so, dass bei Multipler Sklerose regelmäßig die graue Hirnsubstanz von Entzündungsreaktionen betroffen ist. Neuere Forschungsergebnisse weisen darauf hin, dass es gerade diese Läsionen sind, die für die unumkehrbare Zerstörung des Hirngewebes und das stete Fortschreiten der Krankheitssymptomatik verantwortlich sind.

Warum wird die graue Hirnsubstanz bei MS angegriffen?

Das ist die Neuigkeit der Göttinger Arbeit: Die Göttinger Forscher haben herausgefunden, wann das Immunsystem doch die graue Hirnsubstanz angreift. Üblicherweise werden im Modell zur Auslösung der MS-artigen Erkrankung Zellen herangezogen, die gegen Bestandteile der Nervenummantelung, der sogenannten Markscheide, gerichtet sind. Diese Zellen lösen eine mit Lähmungen einhergehende Erkrankung aus. Die Göttinger Forscher wichen von dem altbekannten Schema ab. Sie untersuchten Immunzellen, die gegen ein bestimmtes Eiweißbestandteil von Nervenzellen, das sogenannte beta-Synuklein, gerichtet sind.

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„Unerwartet traten bei den Tieren neuartige neurologische Krankheitszeichen auf. Die Schädigungen sahen auch anders aus, die pathogenen Zellen drangen praktisch ausschließlich in die graue Hirnsubstanz ein“, sagt Dr. Francesca Odoardi, Institut für Neuroimmunologie und Multiple Sklerose Forschung der UMG, und Mit-Seniorautorin der Studie. Diese Entzündungsreaktionen verursachten, vor allem bei mehrfachen Schüben, irreversible Zerstörungen und ein Schrumpfen der grauen Hirnsubstanz, ähnlich wie es von der Multiple Sklerose beim Menschen bekannt ist. In der Tat konnten die Forscher im Blut von Multiple Sklerose-Betroffenen auch eine Vermehrung dieser speziellen T-Zellen finden. Diese waren besonders bei Patienten mit fortschreitendem Krankheitsverlauf erhöht.

Ausblick

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Die Beobachtungen des Göttinger Forscherteams könnten für die Behandlung der Multiplen Sklerose von Bedeutung sein. Die Möglichkeit, im Modell die autoimmune Zerstörung der grauen Hirnsubstanz nachzuvollziehen und damit systematisch untersuchen zu können, kann möglicherweise zur Entwicklung geeigneter therapeutischer Gegenstrategien genutzt werden. Zudem könnte die Erforschung der pathogenen T-Zellen im menschlichen Blut dazu führen, MS-Patienten besser über die möglichen Risiken ihrer Krankheit und geeignete Therapieoptionen aufzuklären.

Hintergrundinformationen

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Unser Gehirn funktioniert ähnlich wie ein Computer durch Weitergabe und Verarbeitung elektrischer Signale. Die graue Substanz ist die Speicher- und Verrechnungszentrale, quasi Festplatte und Prozessor in einem. Hier liegen die Nervenzellen, welche die Signale aus der Umwelt oder den Körperorganen erhalten und verarbeiten. Das heißt: verschalten, speichern und weiterleiten. Dadurch kann das Gehirn wesentliche Funktionen unseres Körpers steuern, wir können uns gezielt bewegen, denken, uns erinnern, fühlen und planen.

Die weiße Hirnsubstanz besteht dagegen im Wesentlichen aus den Fortsätzen der Nervenzellen, die von spezialisierten Isolationsschichten, den sogenannten Markscheiden, ummantelt sind. Diese fördern die elektrische Reizweiterleitung. Man kann die weiße Substanz des Gehirns daher am ehesten mit dem Kabelwerk im Computer vergleichen. Sie ist darauf spezialisiert, die ein- und ausgehenden Signale möglichst schnell und zielgerichtet weiterzuleiten.

Neurologische Erkrankungen können die graue wie die weiße Hirnsubstanz betreffen. Schädigungen der grauen Hirnsubstanz haben die folgenreichsten Auswirkungen, das zeigen Krankheitsbilder der Alzheimer oder Parkinson´schen Erkrankung. Bei diesen Erkrankungen gehen die Nervenzellen der grauen Substanz in bestimmten Hirnregionen zugrunde. Erkrankte verlieren im Laufe der Erkrankung die Fähigkeit, sich zu erinnern und zu denken (sogenannte Alzheimer-Demenz) oder sich koordiniert zu bewegen (sogenannte Parkinson´sche Schüttellähmung).

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Die graue Hirnsubstanz ist aber auch bei der Multipler Sklerose vom Krankheitsprozess betroffen. Multiple Sklerose ist eine Erkrankung, die mit zum Teil schweren fortschreitenden neurologischen Ausfällen einhergeht und vor allem Menschen in ihrem aktivsten Lebensabschnitt, dem jungen Erwachsenenalter, betrifft. Daher ist die Erkrankung nicht nur wegen der tragischen gesundheitlichen Folgen für die Betroffenen, sondern auch wegen der sozioökonomischen Konsequenzen von Bedeutung.

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