Dienstag, 16. April

Zwischen harmlos und pathologisch

Aufschieberitis: Wenn „morgen“ zum Problem wird

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Unliebsame Dinge schiebt man gerne vor sich her: Lästige Aufgaben, unangenehme Gespräche, aufwändige Projekte – bis irgendwann der Druck so groß ist und der eine Tropfen das berühmte Fass zum Überlaufen bringt. Ist es Faulheit, Bequemlichkeit, Vergesslichkeit oder schlichtweg ein Mangel an Organisation, auch Chaos genannt? Die „Aufschieberitis“, im Fachdeutsch Prokrastination, genannt, ist bis zu einem gewissen Punkt Alltagsnormalität – schwerwiegende Fälle kommen aber kaum ohne professionelle Hilfe wieder in die Spur.

Gut gemeinte Maxime

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Der 1987 verstorbene Schauspieler Gustav Knuth hat es einmal schön auf den Punkt gebracht: „Morgen nennt man den Tag, an dem die meisten Fastenkuren beginnen.“ Und wohl jeder kennt den Spruch, mit dem einem Eltern oder Großeltern zuweilen auf die Nerven gegangen sind: „Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen.“ Der gut gemeinten Handlungsmaxime wird wohl kaum jemand widersprechen – allerdings halten sich viele trotzdem nicht daran: Es wird aufgeschoben, was das Zeug hält. Beim Verschieben ertappt, fallen dem Sünder sogleich tausend gute Gründe ein, die der Erledigung des Aufgeschobenen im Wege standen – zumindest mutmaßlich.

Vertraute Routine

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Aufschieben ist normal und alltäglich. Manchmal auch aus der vertrauten Routine, dass sich manche Dinge auch von selbst erledigen – durch Aussitzen. Oft deshalb, weil sich der vermeintliche Druck, etwas jetzt oder umgehend erledigen zu müssen, bei näherem Hinsehen als unnötig erweist: Denn bei vielen Dingen kommt es eben doch nicht darauf ankommt, ob sie heute oder morgen oder übermorgen getan werden. Solche und ähnliche Beispiele wird jeder aus seinem Alltag erinnern und darf sich unbesorgt fühlen – diesem Tun wohnt nichts Krankhaftes inne, auch wenn manche Zeitgenossen das vielleicht anders bewerten.

Extreme Form des Aufschiebens

Es gibt aber auch eine extreme Form der Aufschieberitis, mit schwerwiegenden Folgen für das eigene Leben. Ihr Name: Prokrastination. Wer unter ihr leidet, kommt ohne professionelle Hilfe kaum von ihr los. In einer Umfrage gab mehr als jeder vierte Deutsche an, dass ihm oder ihr die eigene Neigung auf die Nerven gehe, die Erledigung unangenehmer oder lästiger Dinge auf die lange Bank zu schieben. Ist Aufschieben also doch nur eine Marotte wie Rauchen oder Chips vorm TV?

Unangenehmes Vermeiden

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„Aufschieben entspricht einer allgemeinen Verhaltenstendenz der Menschen, Unangenehmes zu vermeiden und stattdessen angenehmere Tätigkeiten vorzuziehen. Sporadisches Aufschieben ist normal und ein Teil der flexiblen Handlungssteuerung. Aber: Das dauerhafte Aufschieben oder Nichterledigen von Aufgaben, deren Wichtigkeit einem bewusst ist, verursacht Stressgefühle, Unzufriedenheit mit sich selbst, schwindende Hoffnung auf Erfolg, Demoralisierung und gegebenenfalls sogar körperliche und psychische Beschwerden“, sagt die Prokrastinations-Expertin Dr. Anna Höcker. Die Düsseldorfer Diplom-Psychologin und Psychotherapeutin hat die Prokrastinations-Ambulanz der Universität Münster aufgebaut und sich auf das Thema Diagnostik, Beratung und Training bei Arbeitsstörungen spezialisiert. Sie weiß: „Extremes oder problematisches Aufschieben – die sogenannte Prokrastination – ist mit starkem innerem Druck verbunden und beeinträchtigt das innere Wohlbefinden und das Erreichen persönlicher Ziele erheblich.“

Unterscheidung wichtig

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Es kommt also drauf an, zu unterscheiden: Zwischen dem einerseits gelegentlichen, harmlosen Aufschieben von Dingen wie Keller aufräumen ohne Zeitdruck. Und andererseits dem gewohnheitsmäßigen Aufschieben von unangenehmen, schwierigen oder wichtigen Dingen, deren Versäumnis oder Verspätung oft empfindliche negative Folgen nach sich zieht. In die letztere Kategorie fallen beispielsweise der Student, der zwar weiß, dass er jetzt endlich mit der Examensarbeit anfangen muss, aber trotzdem zögert. Oder die Angestellte, die davor scheut, ein vom Chef übertragenes wichtiges und zeitkritisches Projekt anzugehen – vielleicht aus Angst vor der Größe und Komplexität der Aufgabe.

Nicht faul oder willensschwach

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Dabei sind Prokrastinierer nicht zwangsläufig faule Menschen oder denen es an Willen mangelt – im Gegenteil: Manche verausgaben sich direkt in der Erledigung anderer wichtiger, im Vergleich zum Aufgeschobenen aber nachrangingen Aufgaben. Wohl auch deshalb, vermuten Experten, weil sie glauben, damit das eigene Gewissen beruhigen zu können. Getreu dem Motto: Seht her, ich konnte die Sache ja gar nicht erledigen – bei den vielen anderen Dingen, die ich zu tun hatte. Dahinter steckt vielfach vielmehr ein „ernsthaftes Problem der Selbststeuerung“, wie die Experten der Prokrastinations-Ambulanz der Uni Münster betonen.

Handeln, wenn es Leiden wird

Die Grenzen zwischen dem harmlosen Aufschieben und dem pathologischen Problem sind auch hier wie so oft fließend. Entsprechend fällt es schwer, dazu grundsätzliche Aussagen zu machen: Ernst wird es da, wo das Aufschieben zu persönlichem Leidensdruck oder Beeinträchtigung im alltäglichen Leben führt. „Die gute Nachricht ist: Aufschieben ist ein erlerntes Verhaltensmuster, das man auch wieder verlernen kann“, macht Psychotherapeutin Höcker den Betroffenen Mut.

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